Reanimation einer Bauruine zum Wohnhaus in Berlin
Prof. Xaver Egger, sehw Architektur, Berlin (Foto: Philipp Obkircher)
Stadtraum interdisziplinär denken — Über Städtebau, Landschaftsplanung und Projekt­entwicklung, über die Stadt als Möglichkeitsraum, notwendige urbane Veränderungen und den wechselseitigen Transfer von Praxis und Lehre.

Ein Gespräch mit:
Prof. Xaver Egger (XE)
Prof. Andreas Fritzen (AF)
Prof. Burkhard Wegener (BW)

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Professor Fritzen, Sie sind Mitinitiator des Masterstudiengangs Städtebau NRW, der ein Zusammenschluss von fünf Hochschulen innerhalb NRWs ist. Sie arbeiten mit einer großen Professorenschaft und legen dabei Wert auf Interdisziplinarität 
in Bereichen wie Soziologie, Verkehrsplanung und Wirtschaftsgeographie. Warum braucht Stadtplanung eine solche Zusammenarbeit?

AF

Es gibt wenige Masterstudiengänge, die auf so viele Disziplinen zurückgreifen müssen wie die Stadtplanung. Das liegt daran, dass wir viele unterschiedliche Bereiche berücksichtigen müssen. Als Erstes sind da die Menschen, die in der Stadt leben. Dazu brauchen wir Kenntnisse von Soziologie. Als Zweites sehen wir den Stadtraum. Hier gibt es sowohl Boden, Luft und Niederschläge, als auch Bebauung, Straßen und Infrastruktur. Dazu benötigen wir Disziplinen wie Architektur, Landschafts­architektur, Städtebau und Verkehrsplanung. Außerdem stellen sich Fragen zu Bau- und Stadtplanungsrecht, sowohl national als auch international. Das ist nur ein kleiner Ausschnitt aus all den Aufgaben, die wir im Masterstudiengang bearbeiten und aus den Inhalten, die wir vermitteln.

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An der Hochschule Bochum unterrichten Sie zwei Städtebaumodule im Bachelorstudiengang Architektur. Wie übertragen Sie eine solche Interdisziplinarität auf Fächer, in denen Ihnen weniger Zeit als im Masterstudium zur Verfügung steht?

AF

Im Bachelorstudiengang vermitteln wir Architekturstudierenden Kenntnisse von Städtebau bezogen auf die Frage: Wie viel Städtebau müssen Architekt*innen kennen, um in ihrem Berufsfeld sinnvoll Gebäude in Strukturen zu integrieren? Wir versuchen, unterschiedliche Disziplinen zu berücksichtigen. Beispielsweise ver­geben wir Lehraufträge in der Regel an Expert*innen aus dem Bereich Landschaftsarchitektur und Freiraumplanung. In den Modulen bearbeiten wir sowohl Fragen des öffentlichen Raumes und Freiraumes als auch Fragen der Architektur in Bezug auf Bebauung, Dichte, Geschossanzahl und Gestaltung von öffentlichem Raum.

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Professor Egger, auch Sie legen als Leiter des Masterstudiengangs Projektentwicklung Wert auf eine fachübergreifende Lehre. In Ihrem Profil schreiben Sie: Die Absolventen verfügen über die Kompetenz, eine Schlüsselposition in interdisziplinären Projektteams zu übernehmen und sich Berufsfelder außerhalb der origi­nären Architektentätigkeit zu erschließen. Welche beruflichen Perspektiven bietet der spezialisierende Master in einem sich ständig wandelnden Stadtbild?

XE

Das ist sehr vielfältig. Es gibt Absolvent*innen, die bei der Berufswahl der Architektin oder des Architekten bleiben, andere gehen in die Immobilienwirtschaft. Es gibt aber auch viele Absolventinnen und Absolventen, die zu Kommunen gehen. Wir brauchen Leute, die die Komplexität dieser Prozesse abbilden und gestalten können. Wie kann ich als jemand, der Projektentwicklung gelernt hat, Stadt gestalten, von der Planung bis hin zur Positionierung und Vermarktung unter immobilienökono­mischen Gesichtspunkten? Städtebau und Architektur sind im weitesten Sinne die Gestaltung sozialer Praxis. Es gibt ein riesiges Spektrum, was man mit dieser Spezialisierung im Masterstudiengang hinterher tun kann. Das ist vielen am Anfang gar nicht bewusst.

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Durch die Spezialisierung des Masterstudiengangs ergibt sich eine ganzheitliche Bearbeitung und Planung in der Projektarbeit über die klassischen Leistungsphasen von Architekt*innen hinaus. Inwiefern sind Ihre Absolvent*innen dann Spezialis­t*innen oder noch größere Generalist*innen?

XE

Sie sind spezialisiert auf „Generalismus“, so kann man es wahrscheinlich sagen. Wir weiten den Begriff auf und sehen Interdisziplinarität nicht mehr als das klassische Bauteam-Modell mit Architekt*innen, Fachplaner*innen und Bauherrn, sondern 
es geht, wie es Andreas Fritzen ansprach, bis hin zu Soziologie und Stadtforschung. Es gibt Studierende, die in den Eignungsgesprächen ganz klar sagen: Mich interessiert der Master, weil ich eine gute Architektin, ein guter Architekt bin, aber wenig von den wirtschaftlichen Hintergründen verstehe. Andere möchten in der Leistungsphase Null anfangen, nach den Bedürfnissen der Gesellschaft fragen und nicht mit einer Exceltabelle und Raumgrößen Architektur machen. Vielleicht entsteht am Ende auch gar kein Haus. Man kann sich spezialisieren, aber der Blick ist weiter und generalistischer, mit einzelnen Spezialdisziplinen.

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Professor Wegener, Sie bringen die Disziplin der Landschaftsplanung mit in die Architekturlehre. Was für neue Blickwinkel erschließen sich die Studierenden durch Ihren Input als Landschaftsarchitekt?

BW

Ich sage immer provokativ: Die Landschaftsarchitekt*innen sind die besseren Städtebauer. Das hat damit zu tun, dass sich der Städtebau, vor allem in den letzten Jahren, viel stärker mit dem Thema Öffentlicher Raum beschäftigt. Man generiert nicht bauliche Räumlichkeiten aus den Gebäuden, sondern baut vielleicht sogar erst den Park, bevor man den Städtebau außen herum auffüllt. Die Idee des Städtebaus und der Landschaftsarchitektur als zwei Fachdisziplinen nebeneinander funktioniert schon seit vielen Jahren nicht mehr. Wir können dem Thema Stadt ein Stück weit gerecht werden, indem wir den vielen Beteiligten interdisziplinär und gleichberechtigt mit Verständnis für die anderen Professionen entgegenkommen. Man muss Stadt erst einmal verstehen: Wie funktionieren Menschen, was sind ihre Bedürfnisse und wie können wir diese in der Stadt abbilden? Da spielt der öffent­liche Raum mit seinen Naherholungsfunktionen eine große Rolle.

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Professor Egger, wie gelingt es Ihnen in einem Masterstudiengang, der nur aus Studierenden der Architektur besteht, interdisziplinäre Lehre zu vermitteln?

XE

Lehre ist heute keine Einbahnstraße mehr. Es ist nicht eine Lehre, die wir zu Studierenden transportieren, sondern es geht in beide Richtungen. Wir sehen, wie sich der eigene Architekturbegriff bei den Studentinnen und Studenten im Verlauf des Masterjahres verändert; ich nehme mir oft die alten Eignungstests und schaue, was hat sie am Anfang besonders interessiert und worin waren sie dann zum Schluss sehr stark? Dabei stelle ich Veränderungen fest, die damit zu tun haben, dass man den eigenen Horizont mit dem, was gelehrt wird, erweitert. Die Aufgabenstellungen sind sehr offen. Leistungsphase Null heißt, wir schauen uns erstmal eine Stadt an, klopfen diese auf mögliche Bedarfe ab und fragen, wofür die Stadt steht. Um daraus eine Aufgabenstellung zu entwickeln, braucht es einen Reifeprozess, weil man sonst als Architekt*innen, wie ich es vorhin skizziert hatte, von einem Raumprogramm, einer Exceltabelle mit Zahlen ausgeht. Deswegen hinterfragen wir das und kommen immer wieder zu dem Schluss, dass je mehr man jungen Menschen zeigt, desto mehr nehmen sie für sich unterschiedliche Dinge auf. So funktioniert ein Masterstudiengang oder im besten Sinne auch Stadtplanung, Landschafts­planung oder Architektur. Wie eine seed bomb, aus der Ideen und spannende Projekte wachsen können. Insofern sind all unsere Studierenden Architektinnen und Architekten, entwickeln sich aber im Kopf oder im Bauch dann zu etwas anderem im Bereich Architektur.

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Professor Fritzen, Sie nehmen mit Ihren Studierenden an spannenden Wettbewerben zu aktuellen Themen teil. Welche Definition von Stadt und Land erarbeiten Sie mit den Studierenden hierbei heraus? Können Sie das an einem Beispiel aufzeigen?

AF

Am Beispiel des aktuell laufenden Schinkel-Wettbewerbs lässt sich gut erklären, was wir uns vorgenommen haben. Dort geht es um den Großmarkt in Berlin und die Frage nach dem Umgang mit Produktion und Vertrieb von Lebensmitteln in einer großen Stadt. Die Frage ist: Machen wir mit der Ernährung von Stadtbevölkerung weiter wie bisher oder versuchen wir, im Rahmen von Nachhaltigkeitsgedanken, Klimawandel und CO2-Einsparnotwendigkeiten, Lebensmittel anders zu produ­zieren? Die Studierenden in dem Masterstudiengang haben nachgewiesen, dass, wenn man vertical farming ernst nimmt, zehn Prozent des jährlichen Gemüseverbrauchs für die Berliner Bevölkerung auf dem Standort des Berliner Großmarktes produziert werden kann. Die technische Umsetzung befindet sich noch in der Experimentierphase, aber es gibt erste Modellvorhaben weltweit. Der Berliner Großmarkt ist deshalb so interessant, weil er eine Anbindung an die Schiene, ans Wasser und an die Straße hat. Das führt zu einem komplett neuen Bild dieses Standortes. Wenn wir uns Stadt als Gebiet angucken, dann ist der größte Teil Frei­raum. Etwa die Hälfte ist Land und Forstwirtschaft, außerdem haben wir in der Regel große Wasserflächen sowie den gesamten öffentlichen Raum. Wenn wir diese Flächen zur Lebensmittelproduktion für die Stadt nutzen, haben wir ein riesiges Reservoir an Möglichkeiten. Da zeigt sich, dass wir in Zukunft anders mit der Frage von Stadt und Land umgehen, als wir es bisher machen. Die Idee des Verbrauchs und der Versiegelung von Flächen für Mobilität kann man radikal umdenken.

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Bringen Studierendenwettbewerbe mehr Innovation als Wettbewerbe in Büros?

AF

Oft sind schon die Aufgabenstellungen für den Wettbewerb stärker auf Innovation ausgerichtet. Das liegt daran, dass eine kurzfristige Realisierung nicht in Aussicht gestellt wird. Der Berliner Großmarkt wird zwar perspektivisch umgebaut, aber nicht auf der Grundlage der Studierendenwettbewerbe. Deshalb sind die Studierendenwettbewerbe sehr geeignet, um Innovation voranzutreiben und auch um eine Diskussion in der jeweiligen Stadt auszulösen. Ich bin mir sicher, dass die Frage, wie man mit dem Großmarkt in Berlin umgeht, nach der Veröffentlichung der Schinkelwettbewerbe nochmal anders abläuft.

BW

Andreas Fritzen und sein Team sind ja schon fast berühmt dafür, dass sie bei Studierendenwettbewerben engagiert und auch sehr erfolgreich sind. Das Entscheidende bei den Studierendenwettbewerben ist, dass es eine Vielschichtigkeit gibt. Es geht nicht nur darum, sich mit einem besonderen Thema und im besten Fall auch mit einer Innovation zu beschäftigen, sondern es geht um die handwerklichen Dinge, die man für Wettbewerbe braucht. Das ist vor allem das Umsetzen der Innovation in Planzeichnungen, Piktogramme, Storytelling und Erläuterungsberichte. Durch die Möglichkeit, einen solchen Wettbewerb zu gewinnen, stecken die Stu­dierenden viel Motivation und Energie hinein, neben dem, was sie sonst im Alltag noch leisten müssen. Darum bin ich immer ganz begeistert, wenn Studierende 
an Wettbewerben teilnehmen.

XE

Es ist hinterher ein hochkompetitives Geschäft, in dem wir tätig sind. Studierendenwettbewerbe sind eine gute Vorbereitung, gerade in unseren Fachdisziplinen. Für wen bauen wir? Für wen ist das Stück Stadt, das dort entstehen kann? Was braucht Stadtgesellschaft? Ein studentischer Entwurf geht hier mit offenen Auf­gabenstellungen zu Konversions- oder Transformationsthemen weit über reine Gestaltung hinaus. Das sind genau die Themen, die die Studierenden hinterher im Berufsleben beschäftigen werden. In den Mastern bilden wir die künftigen Mit­bewerber aus, nicht die künftigen Mitarbeiter. Der Blick ist ein ganz anderer, und daher auch geschärft auf das Thema der späteren Selbstständigkeit. Sonst bin 
ich wieder bei dem, der die Exceltabelle braucht.

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Professor Wegener, als Annäherung an das Thema Freiraum in der Stadt unter­nehmen Sie bewusst mit Ihren Studierenden Stadtspaziergänge mit Fokus auf den öffentlichen Raum. Was beobachten Sie aktuell und wie vermitteln Sie diese Veränderungen innerhalb der Lehre?

BW

Alle sind im Lernprozess, wir Lehrende genauso wie die Lernenden. Was die Lehre angeht, habe ich mit den Studierenden noch keine intensiven Diskussionen über die Pandemie und ihre Bedeutung für den Freiraum geführt. Innerhalb der Profession ist dieser Diskurs voll am Laufen. Für uns alle ist klar, dass der öffentliche Raum innerhalb der Städte und die Möglichkeit aus den vier Wänden an die frische Luft zu gehen, größere Rollen spielen. Auch hochverdichtete Innenstädte, Altstädte und Nachverdichtung sind Themen, die vor Jahren noch en vogue waren und jetzt von der anderen Seite betrachtet werden. Ich glaube, dass in fünf Jahren keiner mehr von der Pandemie spricht. Wir haben unglaublich viel gelernt, aber gesellschaftlich werden wir sie sehr schnell überwinden. Vor diesem Hintergrund glaube ich nicht, dass die Freiräume anders aussehen müssen als vorher. In der Lehre sind für uns nicht nur die Stadtspaziergänge, die ich zum Start der Freiraumplanung anbiete, sondern Exkursionen allgemein ein wichtiges Thema. Die Vermittlung von Inhalten innerhalb der Architektur und Stadtplanung funktioniert am besten, wenn man mit den Studierenden zusammen am Objekt, das heißt in der Stadt, unterwegs ist, über die Dinge redet, darauf hinweist. Es geht darum, das Bewusstsein für den Raum zu erlangen. Es ist mir ganz wichtig, dass wir das im Dialog erleben. Insgesamt spielt die Exkursion auch in unserem Bachelorstudiengang an der Hochschule Bochum eine große Rolle. Nicht nur die großen Exkursionen in alle Himmelsrichtungen, sondern auch die Tagesexkursionen, wo wir mit den Studierenden zusammen sind und rausgehen.

XE

Wir haben im Modul „Wahrnehmung von Orten“ im Master auch eine Team-Building Exkursion am Anfang stehen. Im Prinzip geht es genau um dasselbe Thema. Gesamtgesellschaftlich zeigt sich zurzeit, dass gute Orte vor allem Möglichkeitsräume sind. Das gilt für den Freiraum genauso wie für Gebäude.

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Professor Fritzen, Sie sind seit 2017 BDA Vorstand in Köln und haben in den vergangenen Jahren die Montagsgespräche im BDA moderiert. Dabei steht eine offene Diskussion über bestimmte Themen mit unterschiedlichen Personenkreisen im Fokus. In Ihrem Positionspapier „100% Stadt“ von 2014 sagen Sie unter anderem, dass mit Bürgern sprechen und arbeiten eine wichtige Form der Partizipation ist. Welche Themen fokussieren Sie dabei und wie wählen Sie diese aus?

AF

Eine Gruppe von Architekt*innen und Stadtplaner*innen hat sich vor allem für die gestalterische Aufwertung der Zentren eingesetzt. Wir als Verfasser des Papiers „100% Stadt“ meinen, dass diese Position sehr eingeschränkt ist, denn 80 bis 90 Prozent der Menschen in der Stadt leben nicht in der Innenstadt, sondern an ganz anderen Stellen. Um die Qualität dieser Räume und um die Frage von Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit müssen wir uns unbedingt kümmern. In den Montagsgesprächen des BDA versuchen wir uns mit Beteiligten wie der Öffentlichkeit und den Stadt­bewohnern diesen sehr unterschiedlichen Fragen zu stellen. Es kann, wie Burkhard Wegener und Xaver Egger es angesprochen haben, auch sein, dass die Lösung keine Architektur und keine Gestaltung von Gebäuden ist, sondern dass wir etwas ganz anderes brauchen. Vielleicht brauchen wir an der Stelle eine Re­duzierung und ein Zurücknehmen von Verkehr und vielleicht brauchen wir ein Weg­nehmen von versiegelter Fläche und ein Öffnen. In dieser Breite, mit sehr vielen unterschied­lichen Haltungen, Erfahrungen und sozialen Hintergründen zu denken, das haben wir uns beim BDA Köln auf die Fahnen geschrieben. Während der BDA deutschlandweit oft architekturaffine Themen vertritt, betonen wir neben Stadt und Stadtplanung auch stark Freiraumentwicklung und Verkehrsreduzierung.

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Welche Veränderungen lassen sich seit Ihrem Positionspapier von 2014 erkennen

AF

Das ist für Stadtplanung ein zu kurzer Zeitraum. Ich will das allgemeiner beschreiben: Wir brauchen eine langfristige Perspektive für die Entwicklung von europä­ischer Stadt. Dabei reicht es nicht aus, kleine Bereiche zu verschönern. Mittel- und langfristig geht es um die Frage: Wie gehen wir mit den großen Themen um? Das größte Thema, was uns momentan in den Städten betrifft, ist der Klimawandel. Das liegt daran, dass unsere Städte gegenüber dem Umland und dem Durchschnitt wärmer sind. Wenn die Welt also wärmer wird, dann wird es in den Städten pro­zentual auch wärmer. Diese Frage löst man nicht über Gestaltung, sondern über Systeme. Da spielen z.B. Fragen der Verkehrswende eine Rolle. Wie dicht, wie luxuriös leben wir und an welchen Stellen können wir uns einschränken? Wenn man es ernst nimmt, die Stadt im Klimawandel sowohl darauf einzurichten, dass es wärmer wird, als auch beizutragen, dass es nicht zu warm wird, dann brauchen wir dazu die ganze Stadt. Es reicht nicht, in der Innenstadt in kleinen Bereichen zu wirken, sondern wir müssen jenseits dessen, was wir als Stadt verstehen, also auf dem ganzen Stadtgebiet arbeiten. Das ist das Umland, das sind die Gewässer und das ist die Frage des Umgangs mit Niederschlägen, aber auch eine Frage von Bodenqualität. Da setzt „100% Stadt“ mit einer anderen Komplexität an und versucht auf vielen Ebenen Stadt für soziale Reformen, für Klimareformen, für Verkehrsreformen wirksam werden zu lassen. Eines ist sicher: einen Großteil von Problemen können wir tatsächlich mit Stadt lösen. Wir wissen, wie wir das machen wollen. Aber wir müssen Fahrt aufnehmen. Gedanklich sind wir unserem Zustand weit voraus, aber die reale Stadt hinkt dem, was wir uns vorstellen können, ganz schön hinterher.

XE

Allein mit Gestaltung kann man diese Probleme nicht lösen. Ich will dennoch eine Lanze für Gestaltung brechen. Als es früher um Nachhaltigkeit von Gebäuden ging, fanden wir das alle toll, haben aber die Nase gerümpft, weil wir gesagt haben, dass nachhaltige Gebäude so hässlich sind. Wir müssen über eine Ästhetik des Wandels sprechen. Es löst die Probleme nicht, aber es macht Veränderungen greifbarer und attraktiver. Wir können mit Gestaltung letztendlich dazu beitragen, dass Veränderung und Wandel im positiven Sinne erlebbarer werden.

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Das Themenfeld der Landschaftsarchitektur ist durch aktuelle Diskussionen der sich wandelnden klimatischen Rahmenbedingungen zunehmend größer und komplexer geworden. Prof. Wegener, Sie haben zum Ziel, den Studierenden zeit­gemäße Themen wie klimagerechte Stadtentwicklung an die Hand zu geben. Wie schaffen Sie es, das gesamte Themenfeld in einem kompakten Zeitraum zu kon­kretisieren. Legen Sie den Fokus auf bestimmte Themen?

BW

Oft wird geglaubt, dass die Thematik des Klimawandels neu ist. Das ist nicht der Fall. Die Inhalte, über die wir jetzt sprechen, vom Verständnis des Stadtklimas bis zum Wirken von Grün in der Stadt, sind seit 2009, seit ich an der Hochschule Bochum Freiraumplanung unterrichte, Kernthemen unserer Auseinandersetzung im Städtebau. Es gibt momentan eine gewisse Popularität dieser Aspekte, die seit jeher in der Ausbildung von Landschaftsarchitekten bekannt sind, z.B. dass Fas­sadenbegrünung, Dachbegrünung und vor allen Dingen Baumpflanzungen in unse­ren Städten wichtig sind. Das Problem ist, dass wir in den vergangenen 20 bis 25 Jahren die Stadt anders verhandelt haben. Wir sind momentan in einem gesellschaftlichen Diskurs. Die Rahmenbedingungen und das Verhandeln um Stadt ändern sich. Stadtgestaltung und damit auch die Landschaftsarchitektur spielen dabei eine sehr große Rolle. Das Problem ist momentan vor allem, dass die pro­duzierten Bilder, unreflektiert sind. Sie vermitteln, dass die gesamte europäische Innenstadt mit Fassadenbegrünung vollgeschmiert werden muss, unsere schönen Gründerzeitquartiere alle hinter grünen Fassaden verschwinden, gebauter Dschungel. Wir müssen zusehen, dass nicht die Systemleistung Grün im Vordergrund steht, sondern dass ein Einklang zwischen Stadtqualität und Stadtgestaltung gefunden wird. Eine lebenswerte, durchgrünte Stadt kann auch eine Gestaltqua­lität haben und nicht alles muss informell sein. Wir sind mitten im Diskurs, das Thema ist spannend.

XE

Das Schöne ist, dass die Impulse aus unterschiedlichen Richtungen kommen, ob aus der Landschaftsplanung mit Themen wie Bäume, Sauerstoff und Luftqualität, aus der Verkehrsplanung oder aus der Energieplanung. Stadt, Stadtentwicklung und Stadtplanung können Veränderungsprozesse auslösen und sich verwandeln.

AF

Im Masterstudiengang Städtebau NRW untersuchen wir die von Burkhard Wegener angesprochenen großen Trends. Auf der einen Seite haben wir Verfahren und Wege und bieten Lösungen an. Auf der anderen Seite merkt man, dass es einen gewissen Zeitdruck gibt, der mittlerweile von der Politik mitgemacht wird. Die Vorstellung, dass Europa bis 2050 klimaneutral ist, ist eine wahnsinnige Herausforderung. Diese Dynamik müssen wir mitnehmen und Lösungsmöglichkeiten ent­wickeln. Wie bereiten wir im Masterstudium diese Generation der dann handelnden Mächtigen vor? Das sollte unser Ziel sein.

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Wie sieht für Sie die Lehre der Zukunft aus? Was muss sich ändern in der Lehre?

AF

Europa wird einen Zuwachs an Bevölkerung bekommen, weniger aus unserer eigenen Bevölkerung und mehr durch Zuwanderung von außen. Bevölkerungserhöhung bedeutet in der Folge auch bauliche Verdichtung. Wir müssen sinnvoller mit der Ressource öffentlicher Raum, die wir im Moment noch stark für Verkehr vergeuden, umgehen. Diesen Umbauprozess leiten wir gerade ein. Das müssen wir auch in der Lehre vorbereiten und als etwas Positives zu erkennen zeigen. Die europäische Stadt ist eine gute Grundlage, um diese Veränderungen einzuleiten. Ich bin daher sehr optimistisch und glaube, die zukünftigen Generationen werden nicht ein Europa in Schutt und Asche vorfinden, sondern ein Europa, das in der Lage ist, sich auf diese Transformation gut einzustellen.

XE

Das hat Europa immer ausgemacht, sich immer wieder neu erfinden zu können. Durch die starken Identitäten, möglicherweise auch durch die Reibung, die vor­handen ist, entsteht immer Neues. Natürlich verändert sich auch Lehre, möglicherweise haben wir etwas gelernt über die digitale Lehre. Fernuni, das war immer etwas Exotisches. Heute sind wir alle Fernunis. Wenn man einerseits die architektonische Gestaltung sozialer Praxis und andererseits das Management komplexer Prozesse ernst nimmt und in die Lehre integriert, ist man gut gerüstet für die Zukunft. Durch genaues Hinsehen entsteht eine Idee, die Prozesse werden beherrschbar gemacht. Das hat viel mit Kommunikation zu tun, ein zentrales Thema in allen drei Masterstudiengängen. Auch Architektur wird mehr und mehr ein Kommunikationsstudiengang sein. Es reicht nicht aus, mit guten Zeichentechniken zu Hause zu sitzen. Wir müssen rausgehen, schauen, was passiert, versuchen, das mitzugestalten. Dafür müssen wir sprachfähig sein. Wir müssen in der Lehre Sprachfähigkeit herstellen.

BW

Als Rheinländer bin ich grundsätzlich ein positiver Mensch. Solange wir alle im Dialog miteinander bleiben, sind wir gut für die Zukunft gerüstet. Man muss immer dialogfähig bleiben und eine gewisse Offenheit für alle Menschen haben, dann kriegen wir das schon hin.

 

Xaver Egger ist Professor für Projektentwicklung im Masterstudiengang ArchitekturProjekt-Entwicklung am Fachbereich Architektur der Hochschule Bochum und Gründungspartner von sehw in Berlin.

 

Andreas Fritzen ist Professor für Städtebau und Entwerfen am Fach­bereich Architektur der Hochschule Bochum und Architekt und Stadt­planer in Köln.

 

Burkhard Wegener ist Honorar-Professor für Freiraumplanung am Fachbereich Architektur der Hochschule Bochum und Gründungspartner von club L 94 Landschaftsarchitekten in Köln.

 

Das Gespräch führten Jana Elsner, Saladin Hafermalz, Marie-Lise Hofstetter und Anna-Lena Müller.

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