In Zusammenarbeit mit der Hochschule für Technik Stuttgart haben 30 Studierende ein Lehmhaus für die biologisch-dynamische Landwirtschaft in Namibia gebaut
Ein Forschungsprojekt von Prof. Jörg Probst
Forschung muss vielfältig sein – Über die vielfältigen Dimensionen von Nachhaltigkeit in der Architektur, über Zukunftsperspektiven und Möglich­keiten zur Erreichung der Klimaziele und über Hintergründe zur Forschungstätigkeit am Fachbereich Architektur.

Ein Gespräch mit:
Prof. Volker Huckemann (VH)
Prof. Jörg Probst (JP)
Prof. Christian Schlüter (CS)
Prof. Gernot Schulz (GS)

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Nachhaltigkeit ist ein vielfältig interpretierbarer Begriff. Was ist Ihre persönliche Definition von nachhaltiger Architektur?

CS

Nachhaltige Architektur kann man theoretisch mit den drei Säulen der Nachhaltigkeit beschreiben: ökologisch, ökonomisch und soziokulturell. In erster Linie ist nachhaltige Architektur eine emotional gute Architektur, die die Menschen anspricht, die die klassischen Architekturqualitäten aufweist, die wir in der Architekturlehre vermitteln. Architektur muss darüber hinaus aber mehr leisten. Sie muss den nachhaltigen Pfad der drei Säulen in einen besonderen Fokus rücken. Die anderen Qualitäten haben wir immer schon sehr gut berücksichtigt, aber diese eben nicht. In der aktuellen Diskussion spielt ein Teilaspekt eine besondere Rolle: das Thema CO2. Wenn wir den Wissenschaftler*innen glauben, ist das ein riesiges Problem, das wir zu lösen haben. Wir müssen nicht nur schauen, wie die Häuser während der Nutzung funktionieren, sondern vor allem, wie wir sie bauen. Wir sollten uns klarmachen, dass wir im Moment kein Haus bauen können, welches die Umwelt schont oder entlastet. Alles, was wir tun, belastet die Umwelt. Das ist für uns Architekt*innen eine besondere Herausforderung, denn das beste öko­logische Haus ist das, das wir nicht bauen.

VH

Ein weiterer wichtiger Aspekt der Nachhaltigkeit ist die Reparatur. Man muss nicht wegschmeißen oder vernichten, was nicht mehr funktioniert. Ein Beispiel ist der ehemalige Bau der Kunsthalle Mannheim. Das Gebäude hat nur 30 Jahre gestanden. Der Betonbau wurde für einige Millionen errichtet. Es kann nicht Sinn und Zweck von Architektur sein, dass man solche Gebäude für so kurze Zeiträume errichtet und benutzt. Das gilt auch für die eingesetzten Materialien. Es gibt eine Vielzahl wiederverwertbarer Materialien. Beispielsweise ist Aluminium in der Ökobilanz ein katastrophaler Baustoff, aber ein Material, das man ohne großartige Einbußen immer wieder verwenden kann. Ein weiteres Beispiel sind Ziegelsteine. Vor 100 Jahren war es üblich, dass man Ziegelsteine wieder neu vermauern konnte. Heute verwenden wir stark haftende Mörtel und mauern viel zu dicht aneinander. Eine saubere Trennung der Baustoffe und die Wiederverwertung ist dadurch kaum erreichbar. Wir müssen bei der Definition von Nachhaltigkeit auf bereits bekannte rückbaufreundliche Bauweisen blicken und sie in unserer Planung berücksichtigen.

JP

Auch in technologischer Hinsicht macht nachhaltige Architektur aktuell einen großen Entwicklungsschritt. Wir kommen aus einer Zeit von Effizienzsteigerungen. Jetzt kommen wir zu einer ganz neuen Frage, nämlich der Frage der Effek­tivität. Brauchen wir das, was wir da bauen? Können wir den Nutzen optimieren? Können wir ganz neue Wege finden, um mit Bauen und Nachhaltigkeit effektiv umzugehen? Eine große Thematik ist dazu gekommen: Wir schauen bei Gebäuden auf den gesamten Lebenszyklus. „Cradle to Cradle“ ist zu einem zentralen Begriff geworden. Wir müssen ein Gebäude vom ersten bis zum letzten Gedanken umfassen. Der erste Gedanke ist die Idee: Was brauche ich? Wie baue ich das? Wie plane ich das? Wie gestalte ich das? Und der letzte Gedanke ist: Wie baue ich es wieder zurück? Wie rezykliere ich das?

GS

Anders als bei privaten Bauherren fällt es mit öffentlichen Bauherren schwer, kostenintensivere Bauarten, auch wenn sie CO2- und ressourcensparender sind, durchzusetzen. Wir brauchen ein Umdenken in der Gesellschaft, damit wir bereit sind, höhere Investitionen auf uns zu nehmen, um für die Zukunft ressourcen­sparender aufgestellt zu sein. In der Nachhaltigkeitsdiskussion vermisse ich eine differenzierte Betrachtungsweise. Oftmals wird auf ein Pferd gesetzt. Der Freistaat Bayern hat schon ein Gesetz, dass Schulen mit einem bestimmten Holzanteil zu bauen sind. Das mag in Bayern mit einem großen Zugriff auf Holz richtig sein. An anderer Stelle nehmen wir weite Wege des Holztransportes in Kauf, weil wir das Holz woanders günstiger bekommen. Da bedarf es einer differenzierteren Debatte, bei der geschaut wird, wo welche Bauart die richtige und die wesentliche ist. Im Fokus sollte hierbei immer die Beschaffbarkeit und Recycelbarkeit der Baustoffe in der Nähe der Baustelle stehen. Wichtig ist auch, dass anerkannt wird, dass denkmalgeschützte oder auch alte, nicht denkmalgeschützte Gebäude mehr Energie verbrauchen, denn auch das Herstellen von Dämmstoffen kostet Energie. Ist es nicht besser, darüber nachzudenken, wie die Energie, die gebraucht wird, auf einem niedrigen CO2-Level möglichst vor Ort erzeugt werden kann? Wenn ich ein drei- oder vierhundert Jahre altes Gebäude bauphysikalisch in einen ganz anderen Zustand versetze, dann ist nicht genau ersichtlich, wie es darauf reagieren wird.

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Professor Schulz, als Dekan des Fachbereichs Architektur lehren Sie die Fächer Entwerfen und Baukonstruktion. Wie setzen Sie sich ein, um den Nachhaltigkeitsgedanken der Hochschule Bochum im Fachbereich Architektur umzusetzen?

GS

Unsere Hochschule hat sich Nachhaltigkeit als einen Forschungs- und Arbeitsschwerpunkt gesetzt. Immer wieder stelle ich fest, dass man Nachhaltigkeit für einen eigenen Forschungsbereich hält, und nicht für etwas, was unser aller Leben durchdringt. Im Fachbereich Architektur sehen wir Nachhaltigkeit jedoch nicht als ein addiertes Element, sondern wir verstehen Nachhaltigkeit in jedem Modul als einen integrierten Bestandteil unserer Forschung und Lehre. Als Architekt*innen entwerfen wir nicht ein Gebäude und fragen hinterher, was wir noch als Nach­haltigkeits-Add-on ergänzen können. Nachhaltigkeit ist integrativer Bestandteil des Gebäudes und auch des Planungsprozesses. Wir müssen nicht ständig durch die Gegend fliegen, damit wir im Team ein Gebäude erstellen können. Das gehört genauso zur Nachhaltigkeit, wie darüber nachzudenken, sparsam mit Raum in den Städten umzugehen, Wege zwischen Wohnung und Arbeit zu verkürzen, regionale Baustoffe und Recyclingmöglichkeiten einzusetzen. In der Architektur ist Nach­haltigkeit ein integrativer Bestandteil vom ersten Strich, vom ersten Wort, vom ersten Denken an.

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Welche Relevanz hat die Forschung im Fachbereich Architektur für die Lehre?

GS

Wir erleben eine wachsende Forschungstätigkeit in unserem Fachbereich. Erfreulich ist, dass wir eigene Forschungsstellen schaffen konnten und auch immer mehr Studierende in einzelnen Modulen daran beteiligen können. Für mich ist gerade dieser Punkt sehr wichtig. Deswegen vertrete ich als Dekan in verschiedenen Runden immer wieder die Forderung, dass wir Forschungsstätten nicht außerhalb unseres Campus generieren. Ich halte es für eine viel bessere Idee, diese Forschung mit der Lehre zu vernetzen. Das kann man nur, wenn man diese Forschung auf unserem Campus verortet.

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Wie werden denn die Studierenden in Forschungsprojekten an der Hochschule eingebunden?

GS

In Wahlpflichtmodulen können Studierende direkt an die Forschungsarbeit herangeführt werden. Diese Form der Forschung muss noch stärker sichtbar werden. Eine Forderung, die ich seit Beginn meiner Dekan-Zeit gegenüber dem Präsidium immer wieder darlege, ist die Idee eines Learning-Centers: Ein Haus, in dem Kommunikation und Wissensübertrag stattfindet, in dem Forschung sichtbar wird, in dem ich in Werkstätten hineinsehen kann. Ein Haus, in welchem die Bibliotheken und die Essensversorgung sind. So ein Ort, der weltweit an vielen Hochschulen Normalität ist, fehlt uns. Das hat viel mit Kommunikationsmöglichkeiten in Gebäuden zu tun, was uns unsere heutigen Gebäude nicht oder nur eingeschränkt bieten.

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Welche Herausforderungen gibt es bei den Forschungsprojekten?

GS

Die größte Herausforderung von Forschung in der gegenwärtigen Wissenschaftslandschaft ist, sich nicht treiben zu lassen. Wir sind im Moment Getriebene. Warum sind wir das? Es werden in der Hauptsache Forschungsprojekte ausgeschrieben, auf die man sich bewerben kann. Die Themen werden nicht von uns, sondern von Forschungsgesellschaften oder von staatlichen Institutionen vorgegeben, und wir bewerben uns darauf. Dann kann man Gelder akquirieren, worauf unser Präsidium für die Finanzierung unserer Hochschule angewiesen ist. Ich fände es wesentlich interessanter, wenn die Themen aus der Hochschule selbst kommen. Wenn wir zum Beispiel gemeinsam mit den Studierenden Forschungsfelder finden und erforschen könnten, ohne dass wir etwas tun müssten, was Dritte uns bezahlen.

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Professor Schlüter, auch Sie lehren, forschen und kooperieren mit Institutionen auf den Gebieten Baukonstruktion und Nachhaltiges Bauen. Außerdem sind Sie Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen DGNB. Wie wird Ihre Lehre an der Hochschule Bochum durch das Mitwirken in der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen beeinflusst?

CS

Seit fünf Jahren besteht eine Kooperationsgemeinschaft zwischen dem Fach­bereich Architektur und der DGNB. Im Rahmen dieser Vereinbarung ist es möglich, Studierenden eine Ausbildung als Zusatzqualifikation anzubieten, um durch eine externe Prüfung zum „DGNB Registered Professional“ zu werden. Dies können wir anbieten, da in unserem Curriculum die entsprechenden Lehrgebiete und ein Groß­teil der grundsätzlichen Fragestellungen des nachhaltigen Bauens, der Techno­logien und der nötigen Prozesse vermittelt wird. Mit relativ geringem Aufwand an zusätzlichem Input sind die Studierenden damit in der Lage, diese Prüfung zu bestehen. Die DGNB macht Nachhaltigkeit bewertbar. Das ist wichtig, weil dieser Begriff ja oft inhaltsleer benutzt wird. Die Zertifizierungssysteme bieten die große Chance, auch wenn sie einem nicht immer gefallen und auch kritisiert werden dürfen, inhaltsbezogen zu diskutieren. Ich erlebe, dass die Studierenden diese neuen Erkenntnisse auch in die Büros hineintragen.

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Neben der praxisorientierten Nachhaltigkeitsbewertung engagieren Sie sich auch in der Forschung. Können Sie uns einen Einblick in die Forschungsinitiative „Zukunft Bau“ geben, zu der Sie 2018 als Experte berufen wurden?

CS

„Zukunft Bau“ ist eine große Forschungsinitiative auf Bundesebene, die sich mit Nachhaltigkeitsthemen im Bauen beschäftigt, um das Bauen in Zukunft besser zu machen. Es werden von hochkarätigen wissenschaftlichen Institutionen 200 bis 300 Förderanträge eingereicht, die von einem Forschungsbeirat, dem ich angehöre, ausgewählt werden. Das Gesamtfördervolumen beträgt ca. 40 bis 50 Millionen Euro. Wir haben selbst zwei kleinere Forschungsprojekte im Rahmen eines Modell­vor­habens. Dem Bund ist dieses Thema sehr wichtig, weil er weiß, dass alle Klimaziele und alle Nachhaltigkeitsziele nur zu erreichen sind, wenn es eine massive Verän­derung im Baubereich gibt.

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In welche Richtung sollte unser Fachbereich Architektur die Forschung Ihrer Meinung nach ausbauen?

CS

Forschung muss vielfältig sein, davon lebt Architektur. Ich empfehle, nicht einen schmalen Pfad zu verfolgen, sondern auf ganz unterschiedlichen Gebieten Forschung zu betreiben. Natürlich kann das baustoffliche Bereiche betreffen, aber auch die Forschung im Bereich soziokultureller Qualitäten hat eine große Bedeutung, zum Beispiel die Frage, wie wir mit viel weniger Raum besondere Raum-, Wohn- und Lebensqualitäten erzeugen können? Ich bin sicher, dass darüber auch Synergien zwischen den unterschiedlichen Gebieten und Sichtweisen entstehen können.

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Welche Potenziale sehen Sie in unkonventionellen Materialien oder Bauarten, zum Beispiel in der Lehmbauweise?

CS

Ich sehe großes Potenzial in allen grundsätzlich nachhaltigen Baustoffen. Lehmbaustoffe finde ich persönlich, obwohl wir gerade selbst ein Forschungsprojekt mit Lehmbau machen, etwas überbewertet. Es sind spezielle Eigenschaften, die Lehm interessant machen, aber nur für spezielle Aufgaben in Frage kommen. Aus meiner Sicht ist Lehm eher ein Randthema. Ich glaube nicht, dass das für die große Masse an Bauaufgaben eine wesentliche Rolle spielen wird.

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Welche Forschungsprojekte scheinen Ihnen besonders wichtig?

CS

Forschungsthemen, die sich mit der Frage beschäftigen, wie wir CO2 in der Herstellungsphase von Gebäuden reduzieren, sind aktuell von besonderer Bedeutung. Obwohl ich selbst einen starken Fokus auf das Material Holz habe, scheinen mir neueste Forschungsthemen, die sich mit Beton beschäftigen, besonders interessant, zum Beispiel Beton als CO2-Speicher zu benutzen, indem man CO2 an Beton anlagert. Beton ist ein Baustoff, der große Qualitäten hat und es ist bedauerlich, dass er so eine schlechte CO2-Bilanz aufweist. Man würde sich freuen, einen Beton zu haben, der der CO2-Neutralität näherkommt oder tatsächlich als CO2-Speichermedium funktioniert.

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Professor Huckemann, Sie lehren Bauphysik und energieeffizientes Bauen. Sie forschen aktuell über Ökobeton. Können Sie uns erklären, was Ökobeton ist und wie der Forschungsprozess abläuft?

VH

Unter dem Arbeitstitel Ökobeton wurde in einem gemeinsamen Forschungsprojekt ein neuer, umweltfreundlicher Beton entwickelt. Der Grundgedanke beruht auf Betonen, die wesentlich weniger CO2 in ihrer Herstellung emittieren. Zunächst haben wir verschiedene Strategien untersucht, mit denen man Ökobeton herstellen könnte. Man kann diesen speziellen Beton im Brenntemperatur- oder Zement­rezepturverfahren herstellen. Letzteres ist der Weg, den wir gewählt haben. Wir versuchen Portlandzement, den Haupt-CO2-Emittenten in der Herstellung, durch andere Kalkstrukturen zu substituieren. An zwei Stellen im Prozess ist die CO2-Emission besonders groß: beim Energieaufwand für das Brennen und beim Aus­treiben von CO2 aus dem Kalkstein. Beides wollen wir reduzieren. Wenn wir die Temperatur zusätzlich senken könnten, hätten wir einen noch ökologischeren Beton.

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Sie bieten an der Hochschule Wahlfächer wie den Wettbewerb „Dachwelten“ oder Projekte, wie „Recycling von Dämmstoffen“ und aktuell „Die Fassade der Zukunft“ an. Welche Erkenntnisse konnten Sie bereits aus den Lernergebnissen ziehen?

VH

Wir geben den Studierenden eine Plattform, um sich mit nachhaltigen Ideen zu beschäftigen. Zum Beispiel zum Recycling von Baustoffen und Bauteilen. Was sind die Gründe, warum wir Baustoffe recyceln sollten? Wo sind die Hemmnisse? Was müssen wir beachten, wenn wir Baustoffe recyceln wollen? Oder in dem aktuellen Seminar „Die Fassade der Zukunft“: Wie könnte eine Fassade in 50 Jahren aussehen? Welche Perspektiven sehen Sie als junge Generation für die Anwendung innovativer Technologien in der Zukunft? Und wo würden Sie sagen, dass es das in der Zukunft wahrscheinlich nicht geben wird? Diese Wahlfächer sind nichts anderes als gelebte Nachhaltigkeit.

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In Ihrer Lehre legen Sie viel Wert auf Exkursionen zu Baustoffherstellern. Inwiefern verstärkt dieser direkte Kontakt zu Baustoffen und Herstellungsverfahren das Bewusstsein der Studierenden für nachhaltiges Bauen?

VH

Mir geht es in erster Linie darum, dass Studierende feststellen, welcher Aufwand hinter dem einzelnen Material steckt. Ein eindrucksvolles Erlebnis war, in 20 Metern Entfernung bei winterlichen Temperaturen neben dem Drehofen von einem Zement­werk zu stehen und zu merken, wie warm diese Röhre herunter strahlt. An der Stelle sind immer noch Oberflächentemperaturen von 700 Grad auf der Metallröhre. Wer das erlebt hat, hat ein besseres Verständnis für Inhalte in den theoretischen Vorlesungen. Gleichzeitig bietet man dem Hersteller eine Plattform. Das ist ein kontroverser Punkt. Prinzipiell sind wir als Lehrende neutral. In den Gesprächen mit Herstellern stellen wir fest, dass sie ein Interesse haben, sich weiterzuentwickeln und sich auf neue nachhaltige Impulse einzulassen, wie die Hochschule sie geben kann. Transparenz und Dialog sind für Architekt*innen wichtig. Wir Architekt*innen entscheiden über den Materialeinsatz. Man kann exakter Forderungen formulieren und bestellen, wenn man weiß, wie der Hersteller tickt, an den man sich wendet.

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Das Zusammenspiel zwischen Architekt*innen und Herstellern spielt in der Praxis eine ebenso wichtige Rolle wie zwischen Architekt*innen und Fachplaner*innen. Herr Probst, Sie lehren im Fachbereich Architektur als Wirtschaftsingenieur unter anderem die Themen Technische Gebäudeausrüstung und Projektentwicklung. Wie lässt sich integrale Planung bereits während des Studiums vermitteln?

JP

Der Kern des Gelingens ist die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Fachrichtungen Bauphysik, Haustechnik, Tragwerksplanung etc. All das gilt es vor dem ständig wachsenden Druck gesetzlicher Rahmenbedingungen in die Architektur zu integrieren. Es ist eine wesentliche Aufgabe, das Thema der integralen Planung so früh wie möglich bei den Studierenden anzulegen und gemeinsam gestaltend tätig zu werden. Die größte Kunst ist es, das jeweilige Gegenüber zu verstehen. Wir werden nicht weiterkommen, wenn Architekt*innen und TGA-Planer*innen sich gegenseitig nicht verstehen, also den Gesamtentwurf überhaupt nicht begreifen wollen. Wir müssen diese Integrationsleistung zu einem imma­nenten Bestandteil der Ausbildung machen. Und wir müssen unsere gegenseitige Expertise wertschätzen. Entscheidend ist, dass man sich mag. Ich mag Archi­tektur. Wenn ich verstanden habe, was das Ganze ist, dann kann ich sagen, was dafür die richtige Technik ist. Aber eben nicht andersrum. Ich kann nicht mit einer Technik beginnen, ich kann nicht mit einer Antwort beginnen und dafür die passende Frage suchen. Ich muss mit der Frage beginnen. Das üben wir gemeinsam im „Konstruktiven Projekt“.

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Nun haben wir ja auch andere Studiengänge an unserer Hochschule, die sich mit Ingenieurswissenschaften auseinandersetzen, Bauingenieure zum Beispiel. Gab es bereits Ideen für Kooperationen mit diesen Studiengängen?

JP

Wir kooperieren intensiv mit dem Bereich der Bauingenieure. Ich bin gerade in der Berufungskommission für neue Professor*innen im Fachbereich Bauingenieur­wesen. Wir verfügen über ein ganz neues Projekt im Bereich der Nachhaltigkeitswissenschaften. Dabei entwickeln wir einen sogenannten E-Mobility-Hub für die Hochschule, in dem es neue E-Mobility-Konzepte geben wird, die der Fachbereich Elektrotechnik entwirft. Des weiteren bringen wir uns mit dem neuen Kollegen Sven Pfeiffer gestaltend dort ein und verbinden die Bereiche miteinander. Es ist eine große Freude, etwas mit den anderen Fachbereichen der Hochschule zusammen auszuarbeiten. Die sind dafür alle offen. Ich habe bislang nur unkomplizierte Begegnungen erlebt.

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Sie kooperieren auch mit Institutionen außerhalb der Hochschule, zum Beispiel an einem Projekt in Namibia. Können Sie das Konzept der Krumhuk-Farm erläutern?

JP

In Namibia gibt es eine Farm, auf der Menschen für eine bestimmte Zeit leben, um biologisch-dynamische Landwirtschaft zu betreiben und zu lernen. Wir haben zusammen mit einer Hochschule in Stuttgart ein Lehmbau-Projekt entwickelt, das diese Praktikant*innen sich selbst als Wohnhaus bauen. Die Deutsche Bundes­stiftung Umwelt war der wesentliche Fördermittelgeber. Mit 30 Studierenden sind wir nach Namibia gefahren und haben dieses Haus gebaut. Lehmbau ist Hausbau mit Muskelkraft. Der Lehm wurde handgeschüppt und handgesiebt. Mit einer Lehmpresse wurden Grünlinge, also ungebrannte Ziegel, hergestellt. Alle Beteiligten hatten Blasen an den Fingern, Rückenschmerzen und haben das Bauen in seiner archaischen Grundform erlebt. Man würde sich wünschen, dass jedes Semester bei uns auf dem Hof vor der Bluebox ein ganz modernes Passiv-plus-Energiehaus oder Cradle-to-Cradle Gebäude gebaut wird, von dem man sagt: Wir haben richtig angefasst. Das ist in Namibia gelungen. Natürlich vor dem Hintergrund, dass es in Afrika noch viele andere Schwierigkeiten gibt. Man hat viel weniger Möglichkeiten, Dinge zu tun. Dafür hat die Bevölkerung dort viel mehr Humor, mit Problemen umzugehen. Da kann man auch was von lernen.

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Hat sich in der Breite der Baubranche schon ein Bewusstsein für ökologisches Bauen und Nachhaltigkeit entwickelt oder ist das nur ein Thema für Expert*innen und Vordenker*innen?

JP

Die Baubranche ist hoch relevant bei allen Nachhaltigkeitsfragen. 50 Prozent allen Mülls stammen aus der Baubranche. Die Zementindustrie erzeugt doppelt so viel Emissionen wie die gesamte deutsche Flugindustrie. Das Thema geht jeden an, denn es gibt keinen Menschen in Deutschland, der nicht wohnt, der nicht Berührung zu Gebäuden und zu Architektur hat. Aber die Bauwirtschaft ist in der Entwicklung im Bereich der Nachhaltigkeit nicht führend. Wir haben in der Bauwirtschaft keinen Elon Musk, der die Industrie vor sich hertreibt.

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Wie lässt sich denn nachhaltiges Bauen noch besser im öffentlichen Bewusstsein verankern?

JP

Durch Taten. Wir fahren häufig im Rahmen einer Exkursion zum neuen Rathaus der Stadt Venlo, einem Cradle-to-Cradle Gebäude. Dieses ist beispielhaft im Bereich des nachhaltigen Bauens. Venlo ist eine kleine Stadt, deren Rathaus an einer exponierten Straßenkreuzung steht. Die Stadt hat gesagt: „Wir bauen ein Haus in diese Stadt, durch das die Luft besser werden soll.“ Das Gebäude hat heute die größte begrünte Fassade Europas. Sie nimmt so viele Schadstoffe, Staub und CO2 auf, dass die Luft tatsächlich durch dieses Gebäude besser geworden ist. Wenn man nachhaltiges Bauen vorlebt, dann kommt auch in der Bevölkerung Lust auf, daran teilzuhaben. Doch dafür muss man mutig sein. Manchmal muss man übermütig sein.

 

Volker Huckemann ist Professor für Bauphysik und Energieeffizientes Bauen und Prodekan am Fachbereich Architektur der Hochschule Bochum und Inhaber des Architekturbüros VH in Salzkotten.

 

Jörg Probst ist Professor für Technische Gebäudeausrüstung am Fachbereich Architektur der Hochschule Bochum und Geschäftsführer der Gertec GmbH & Co KG in Essen sowie der Menschen und Unternehmen GmbH in Gescher.

 

Christian Schlüter ist Professor für Nachhaltiges Bauen und Konstruieren und Bauen im Bestand am Fachbereich Architektur der Hochschule Bochum und Gründungspartner von Architektur Contor Müller Schlüter ACMS in Wuppertal sowie Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen e.V. DGNB.

 

Gernot Schulz ist Professor für Entwerfen und Baukonstruktion und Dekan des Fachbereichs Architektur der Hochschule Bochum sowie Gründer und geschäftsführender Gesellschafter von gernot schulz : architektur in Köln.

 

Das Gespräch führten Vivian Bander, Ann-Sophie Heuer, Jannis Maurer und Michael Schulze.

  • In Zusammenarbeit mit der Hochschule für Technik Stuttgart haben 30 Studierende ein Lehmhaus für die biologisch-dynamische Landwirtschaft in Namibia gebaut
    Ein Forschungsprojekt von Prof. Jörg Probst
  • In Zusammenarbeit mit der Hochschule für Technik Stuttgart haben 30 Studierende ein Lehmhaus für die biologisch-dynamische Landwirtschaft in Namibia gebaut
    Ein Forschungsprojekt von Prof. Jörg Probst
  • Variowohnen Bochum, Laerheide. Modellvorhaben im Rahmen der Forschungsinitiative des Bundesbauministeriums
    Fotograf: Sigurd Steinprinz, Wuppertal. Architekt: ACMS Architekten GmbH, Wuppertal. Auszeichnungen: Green Solutions Awards 2021; DGNB + Construction21 / Architekturpreis Bochum 2021, BDA. Forschungsbegleitung: Hochschule Bochum, Prof. Christian Schlüter
  • Variowohnen Wuppertal, Max-Horkheimer-Straße. Modellvorhaben im Rahmen der Forschungsinitiative des Bundesbauministeriums
    Fotograf: Sigurd Steinprinz, Wuppertal. Architekt: ACMS Architekten GmbH, Wuppertal. Auszeichnungen: Architekturpreis Nordrhein-Westfalen 2021, BDA. Forschungsbegleitung: Hochschule Bochum, Prof. Christian Schlüter
  • Entwurf für ein Learning Center an der Musikhochschule Dresden von Prof. Gernot Schulz
  • Entwurf für ein Learning Center an der TU Dresden von Prof. Gernot Schulz
  • Learning Center Pamplona
  • Forschungsprojekt Ökobeton bei Prof. Volker Huckemann Foto: Holcim